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Brief von Max Bruch an Ernst Rudorff Musikwissenschaftliches Institut Köln Max-Bruch-Archiv Signatur: Br. Korr. 154, 380
Brief von Max Bruch an Ernst Rudorff Musikwissenschaftliches Institut Köln ; Max-Bruch-Archiv
Signatur: Br. Korr. 154, 380
Bruch, Max (1838-1920) [Verfasser], Rudorff, Ernst (1840-1916) [Adressat]
Liverpool, 14.12.1882. - 16 Seiten, Deutsch. - Brief
Inhaltsangabe: Transkription: Ich bin von London zurück, wo ich im Auftrag unsres Comité’s Gounod’s redemption“ (Die Erlösung) hören mußte. Beiläufig gesagt, ein sehr curioses Werk, welches wohl nicht geschrieben worden wäre, wenn der Autor des „Faust“ die Bach’sche Matthäus- und Johannes-Passion gekannt hätte. Mündlich einmal mehr darüber! Viele freundliche Worte sind aus Anlaß Eurer Odysseus-Aufführung über den Canal zu mir geflogen, und alle bestätigen mir, daß es eine ungewöhnlich schöne Aufführung war – und daß sie so schön wurde, das ist ohne alle Frage in erster Linie Dein Verdienst. Ein gewissenhafter Künstler erfüllt zwar unter allem Umständen seine Dirigenten-Pflicht; daß Du sie aber in diesem Falle so freudig erfüllen konntest – daß Du im Stande warst, Dich jetzt dem Werk mit ganzer Seele hinzugeben – das ist mir besonders werthvoll und erfreulich. Daß Du dem Odysseus lange kühler gegenüberstandest, wie manche Andern, wußte ich, und habe ich auch in der Zeit, als das Werk mir noch sehr nahe stand, bedauert; da es aber thöricht wäre zu verlangen, daß in künstlerischen Fragen Alle eines Sinnes seien, und da Jeder das Recht hat, seine eigene Meinung zu haben und zu begründen – so habe ich mir später darüber keine Gedanken mehr gemacht. Die Freundschaft zwischen zwei Männern, die in allen wesentlichen Fragen des Lebens und der Kunst übereinstimmen, ist zum Glück zu fest begründet, als daß sie durch eine gelegentliche Meinungsverschiedenheit über Kunst-Producte irgendwie berührt werden könnte. Du sagest selbst, daß Du Dich früher mit der eigentlich großen Chormusik (mit der Chormusik, die durch Massen auf Massen wirken will), wenig beschäftigt hast; ich meinestheils bin, wie Du weißt, von der Vocalmusik ausgegangen, habe das Chorwesen mit Leidenschaft und Ausdauer viele Jahre lang vorzugsweise studirt; es hat mir seit lang als das schönste Ziel vorgeschwebt, das weltliche Oratorium im Geiste und mit den Mitteln unserer Zeit zu erneuern. Daß dieser Gedanke nicht falsch war, hat die Aufnahme des Frithjof, des Odysseus und der Glocke in den weitesten Kreisen bewiesen. Ich bin aber nicht so unbescheiden und thöricht, zu glauben, daß ich schon viel gethan hätte, sondern hoffe jetzt erst recht anzufangen. Meine Scenen aus der Ilias, woran ich seit Sept. d.J. arbeite (leider mit sehr großen Unterbrechungen) sollen Dich hoffentlich noch mehr befriedigen, als der Odysseus. Das Gedicht (vom Städt. Bibliothekar Dr. H. Bulthaupt in Bremen) ist herrlich; und, da sich diesmal Schaffenslust und scharfe Selbstkritik vielleicht noch mehr als früher, die Waage halten, so wollen wir hoffen, daß etwas zu Stand kommen, was des Antheils der Guten werth ist. 1884 hoffe ich damit hinauszutreten. Allerdings erkenne ich in Händel den größten Chor-Meister aller Zeiten, und habe das Wesen und die Wirkungen seiner unvergleichlichen Chöre sehr studirt – ebenso Mendelssohn’s herrliche Chormusik (bei Schumann und Brahms ist in dieser Hinsicht nichts zu holen, weil sie Beide vom eigentlichen Chorwesen nichts verstehen). Händels Größe ist indessen so erdrückend daß man sich, je mehr man ihn kennen lernt, je mehr als ein höchst erbärmlicher Zwerg vorkommt. Ich rede hier in erster Reihe von seinen Chören; bezüglich der Gestaltung der Solostücke habe ich anderen Gesetzen zu folgen, als er. Vom Orchester spreche ich gar nicht. Ich glaube, bezüglich des Schlußchores hast Du ganz recht – er ist zu lang. Wer wird aber neue Chorstimmen anschaffen? Fast alle Gesellschaften Deutschlands, Hollands, der Schweiz, Englands und viele Amerikas besitzen das Werk und haben es wiederholt aufgeführt, wie es ist, mit seinen Vorzügen und Mängeln; eine Neuanschaffung ist also nicht zu erwarten. Wichtiger wäre es, das Duett am Schluß durch ein ganz anderes zu ersetzen; denn das jetzige steht nicht auf der Höhe der Situation. Die „namenlose Freude“ ist und bleibt zwar ein Unicum, und jeder Versuch einer Nachahmung würde sich empfindlich rächen. Man hätte aber an dieser Stelle noch etwas Anderes finden müssen. Ich wurde damals gedrängt, - und schrieb dies Stück in sehr unbehaglichen Lebensverhältnissen, in Berlin, in lodgings (meine Schwester war krank) - ich war mit meiner Kraft am Ende; und so kann man sich mancherlei schon erklären, was trotzdem in künstlerischer Hinsicht zu bedauern bleibt. Uebrignes war nie beabsichtigt, das erste Wiedersehen des Od. und der P. zu schildern; schon die Ueberschrift der Scene „Fest auf Ithaka“ sagt deutlich, was beabsichtigt war. Die Intention ist aber meist mißverstanden worden ,,Ein Mangel ist auch, daß die Stimmen (namentl. Sopr. und Tenor, gelegentlich auch der Bass) zu sehr in die Höhe getrieben sind. Die Leute haben es zwar überall geleistet, weil sie sich mit einem rasendem Enthusiasmus (!) der Sache hingaben – aber es ist und bleibt ein Fehler, der künftig zu vermeiden ist. Ich schrieb Odyss. unmittelbar nach meiner Sondershausener Zeit, wo ich 3 Jahre lang nur mit orchestralen Dingen zu thun hatte. Jetzt kennen wir denn doch das Chorwesen besser! – Die Unterwelt-Scene fällt in der II. Hälfte ein wenig auseinander; ich kann sie nicht mehr ganz gelten lassen, weil meine Anforderungen an Architektonik jetzt auch viel strenger sind, wie damals. Obgleich wir mit Mühe die vielen Geister-Erscheinungen bei Homer auf die 2 durchaus nothwendigen reducirt haben, herrscht doch noch mehr das Declamatorische zu sehr vor. Die Scene war aber sehr schwer zu gestalten. Trotzdem wirkt sie durch ihren Empfindungsgehalt auf Einsichtige. Die Nausikaa-Scene wirkt stets sehr freundlich und konnte im Gefüge des Ganzen nicht entbehrt werden. Es ist aber nicht möglich, daß irgend eine musikalische Bearbeitung auch nur entfernt einen Begriff giebt von dem Zauber, der bei Homer über dieser ganzen Episode liegt. Alle feinen Züge, die uns dort entzücken, müssen hier wegfallen. Lies den Gesang wieder, und Du wirst mir Recht geben. Mit der orchestralen Behandlung des ganzen Werkes bin ich noch heute einverstanden. 4 Scenen mußte ich drucken lassen, ohne sie vorher gehört zu haben (beide Arien der Penelope, Nausikaa, und Nfr. IX, die Heimkehr). Es klang aber fast alles so, wie es sollte. - Das Wagnis werde ich aber nie wieder unternehmen, nur die äußerste Noth trieb mich damals dazu. „Zehn Jahre fast sind’s“ – seiet das Werk neu war. Sehr spät kommt die Berliner Aufführung, das ist wahr; mich aber freut es, daß ein Freund, wie Du, dazu berufen war, die unqualificirbaren Sünden der Stern und Stockhausen gut zu machen! - Daß man in Berlin je einen wirklich herzlichen Antheil an einem meiner Werke nehmen würde (wie es jetzt der Fall ist), hätte ich mir nie träumen lassen. Um so besser! – Bezüglich der werdenden Ilias-Scenen bitte ich Dich um Discretion. Sage Niemandem davon. . Und nun laß mich fragen, was Du in den letzten Jahren geschrieben hast? Ich sitze hier in meiner Wüste am Atlantischen Ocean, und mein Name ist Haase – ich weiß von nichts!“ – Das Letzte, was ich Dir hörte (Decbr. 79) war die Orchester Serenade, die mir einen sehr guten Eindruck machte. Sollte ich mich wieder in Deine Nähe kommen (was sehr leicht möglich ist, denn Breslau verhandelt mit mir!) so hoffe ich zuversichtlich, daß wir wieder mehr von einander haben, und künstlerisch zusammen fortleben. – Vielleicht interessiert es Tante Leo, meine Meinung über verschiedene Einzelheiten des Od. kennenzulernen; in diesem Falle habe ich gar nichts dagegen, daß Du ihr den Brief mittheilst. Und grüße sie aus herzlichste. Nun wünsche ich Dir und den Deinigen, auch der werthen, guten Mama, „a merry Christmas and a happy new year“, und bleibe stets Dein alter Freund Max Bruch Meine l. Frau grüßt herzlichst. Anlage. – Officiell (Willst Du so gut sein Folgendes Montag den 16. Dec. im Verein zu verlesen?) [Dankadresse an den Verein]Bulthaupt, Heinrich (1849-1905) [Erwähnt], Händel, Georg Friedrich (1685-1759) [Erwähnt], Mendelssohn Bartholdy, Felix (1809-1847) [Erwähnt], Brahms, Johannes (1833-1897) [Erwähnt], Leo, Augusta [Erwähnt], Schumann, Robert (1810-1856) [Behandelt]
Stern'scher Gesangverein (Berlin) [Behandelt]
Bemerkung: Max Bruch
Objekteigenschaften: HandschriftPfad: Max-Bruch-Archiv / Korrespondenz
DE-611-HS-4308214, http://kalliope-verbund.info/DE-611-HS-4308214
Erfassung: 10. Dezember 2025 ; Modifikation: 10. Dezember 2025 ; Synchronisierungsdatum: 2025-12-10T15:34:23+01:00
